Einblicke

Dirk Burchard - persönliche Einblicke

   
Eigentlich wollte ich Photograph werden. Als Kunstform war die Photographie in Deutschland aber selbst in den 80ern nicht wirklich anerkannt, obwohl das bei Henri Cartier-Bresson damals immerhin niemand in Frage gestellt hätte - an bundesdeutschen Kunsthochschulen konnte man sich der Photographie aber bestenfalls im Rahmen von Grafikdesign widmen. Ende 1988 hatte ich sogar noch Glück als ich nach Bremen zog, wo es ein Fotoforum Böttcherstraße gab mit wechselnden Ausstellungen etwa alle sechs Wochen, die mich fast immer anregten. Das Gebäude wurde dann von der Sparkasse in Bremen gekauft, dem Fotoforum gekündigt, und jetzt gibt es in diesen Räumen eine ständige Ausstellung Paula Modersohn-Becker, die ich aus Trotz niemals besucht habe. Inzwischen in Hamburg ist das wieder besser geworden, da ich großartige Ausstellungen mit Werken von Herbert List und Herb Ritts im Museum für Kunst und Gewerbe sah und kürzlich zwar gute, aber merkwürdig leidenschaftslose Photos von Martin Munkácsi in den Deichtorhallen. In den 90ern, dem bundesdeutschen Jahrzehnt beispielloser menschlicher Häßlichkeit, hatte ich weitgehend aufgehört zu photographieren - keine Ahnung, ob mich in diesem Jahrtausend wieder die Inspiration ergreift, aber sowas ist bereits anderen nicht passiert.
Meine Leidenschaft für's Theater hat hingegen erst in Hamburg ihren Dämpfer bekommen, und zwar mit dem Intendanzwechsel auf Kampnagel. Dort hatten mich zuvor Parzival auf einem Bolzplatz und Tanzhalle inszeniert von Sandra Strunz begeistert, die Installationen von Jim Whiting, Fiege, ein Stück ohne Geilheit oder Mein Gastspiel mit der Bairishen Geishas Makiju, Teehausmutter Mama-san, deren Pflaumenknödel und Musik von Herrn Bono. Sowas gibt's dort leider nicht mehr. Schauspielhaus war dann gut, Der okkulte Charme der Bourgeoisie bei der Erzeugung von Reichtum, vor einiger Zeit Marleni über ein Zusammentreffen von Marlene Dietrich und Leni Riefenstahl oder 4.48 Psychose von Sarah Kane, zu deren Zerbombt (Blasted) ich am 26. September 1996 das erste Mal im Malersaal gelandet war. Aber im Schauspielhaus gab es nun auch einen politisch erzwungenen Wechsel der Intendanz, der böses ahnen läßt. An Edward II im Thalia erinnere ich mich ebenfalls gern, obwohl das alles so ähnlich aussah, wie im gleichnamigen Film von Derek Jarman.

Auch Sachsen-Anhalt war theatermäßig sehr anregend (ganz im Gegensatz zu meiner Juristenausbildung - herzlichen Dank noch an alle Theaterschaffenden dort, ohne die ich fast allwochenendlich diese Zusammenrottung von ostMob und westReaktionären in Justiz und Verwaltung kaum durchgehalten hätte). Persifedron inszeniert von den Freien Kammerspielen Magdeburg eröffnete mir den herausragenden Einblick in osteuropäisches Theaterschaffen. Aber vor allem meine Begegnung mit dem Werk von Georg Kaiser, insbesondere mit seinem Silbersee erstmals zum Kurt-Weill-Fest in Dessau am 8. März 1997 hat mich geprägt und mir bewußt gemacht, wie hochentwickelt die Theaterkultur in der Weimarer Republik bereits war bis im Nationalsozialimus der Mob jegliche Avantgarde vernichtet hat. In Magdeburg sollte daher die Ausstellung zu seinem Leben und Werk im Literaturhaus niemand versäumen, denn Georg Kaiser war mit seinen Visionen bereits weiter als der jüngere Bertold Brecht und hat niemals gesellschaftliche Verhältnisse als Struktur kritisiert, sondern immer deren Ausgestaltung durch Individuen herausgestellt.

Zuvor in Bremen war ich mit dem Jungen Theater, der ShakespeareCompany und dem Concordia als es von freien Theatergruppen bespielt wurde, noch arg verwöhnt - und insbesondere vom Satyricon in der Hankenstraße bis das die Bremer damals kaputtignoriert hatten - das ist der Bremer FassbinderKomplex, daß man als Avantgarde angesehen werden, aber Avantgarde nicht wirklich haben und schon gar nicht fördern will.
Georg Kaiser - Zeichnung von Alfred G Küchler
Zu großer Bedeutung in meinem Leben hat es Heinrich Heine gebracht. Hatte ich meine erst juristische Hausarbeit noch mit einem Haßgedicht auf die Juristenschaft eröffnet, mußte ich später leider dessen Tiefsinnigkeit erfahren und bereits wie Heine von Preußen nach Hamburg fliehen. Demgegenüber finde ich Goethe zum Kotzen langweilig, der zeitlebens gegen Pressefreiheit und für Zensur eingetreten ist, in Die Leiden des jungen Werther dessen Scheitern an gesellschaftlichen Hierarchien als krankhafte Beschränkung diffamiert hat und in seinem Spätwerk Wahlverwandschaften von seiner aristokratischen Speichelleckerei schon so debil war, daß er nur noch Beziehungsprobleme des Adels umzusetzen vermochte. Etwas schwieriger ist meine Haltung zu Thomas Mann und dessen unendlicher Nachsicht, derweil sein Werk unangefochten bleibt. Hatte Thomas Mann aus dem amerikanischen Exil in Radioansprachen an die deutschen Hörer versucht, diese zur Abkehr von nationalsozialistischen Zielen zu überzeugen, hat die Berlinerin Marlene Dietrich sich mit derartigem Glauben an das Gute im Menschen gar nicht aufgehalten und sogleich alliierte Truppen motiviert. Ihr Standpunkt dürfte realistischer gewesen sein.
Brazil by Terry Gilliam Am häufigsten habe ich im Kino Brazil von Terry Gilliam gesehen. Jedenfalls mehr als sieben mal, und einmal in Paris in der englischen Orignalfassung mit französischen Untertiteln - ich wußte meist, was in der deutsch synchronisierten Fassung gesagt wurde. Brazil entstand zum Orwell-Jahr 1984 und markiert einen Höhepunkt avantgardistischen Kinoschaffens des vergangenen Jahrtausends. Sam Lowry ist mein unübertroffener Kinoheld, weil er Ideale hat, sie lebt und sie selbst gegen grotesken Widerstand niemals preisgibt.

Weitere großartige Kinoerlebnisse waren für mich: Die Ehe der Maria Braun und ALLES von Rainer Werner Fassbinder, The Fluffer, Clerks, Sur von Fernando E Solanas , Prick up your ears, Fallen Angels und ALLES von Wong Kar-Wai, Bagdad Café (Out of Rosenheim), Hairspray und Polyester von John Waters, Rabbit Proof Fence, Strictly Ballroom, Some like it hot und Eins-zwei-drei von Billy Wilder, Edward II und Blue sowie ALLES von Derek Jarman, Braindead und Heavenly Creatures von Peter Jackson, Die Bartholomäusnacht, Indien, Müllers Büro, Ludwig 1881, Die Zone von Andrej Tarkowski, Rashomon, La Mala Educación und ALLES von Pedro Almodovar, Before Rain (Vor dem Regen), Eat the rich, Sein oder Nichtsein von Ernst Lubitsch, Der diskrete Charme der Bourgeoisie, Requiem for a dream, Sie haben Knut, The dreamers von Bernardo Bertolucci, Der stille Amerikaner, Balzac und die kleine chinesische Schneiderin, I love Bejing, Before Night Falls, Laurel & Hardy und Wallace & Gromit oder Dokumentationen wie Im toten Winkel, Black Box BRD, Schleyer - Eine deutsche Geschichte, Starbuck - Holger Meins, Bowling for Columbine und Fahrenheit 9/11 von Michael Moore, Von Richtern und anderen Sympathisanten und natürlich Er tanzte das Leben - Sylvin Rubinstein. Achja, und das 3001 ist mein lieblingsKino in Hamburg.
Hamburg. Karl Lagerfeld sagt, Hamburg hätte zwar das Tor der Welt, aber Hamburg sei noch nicht die Welt. Stimmt, Hamburg ist für deutsche Verhältnisse eine großartige Stadt, aber nachdem ich Ende 1999 aus Preußen hierhin geflohen war, taten sich mit der Schill-Horáková-Kusch-vBeust-Ära auch hier Abgründe auf, welche diese Stadt auch nach dem Abdanken der ersten beiden noch immer prägen und auch atmosphärisch runterziehen. Hier wächst derzeit nichts oder allenfalls in Nischen. Aber das Tor zur Welt wird sich für mich wohl erst öffnen, falls ich in Strasbourg gewinnen sollte, und bis dahin versuche ich meine Zeit in Hamburg so produktiv und geistreich wie möglich zu nutzen zum Beispiel mit dem © Förderverein für individuelles Werkschaffen... Hamburg