© Creative Commons Lizenzvertrag

© Dirk Burchard zum 9. November 2010 www.ryker.de/dirk/archiv/kohlfeiertag.html

20 Jahre Kohlfeiertag

Noch 80 Jahre bis zur Briefmarke 100-Jahre-Aufbau-Ost waren es am 3. Oktober 2010, genau zwanzig Jahre nachdem Wolfang Schäuble und Günther Krause Helmut Kohls Einigungsvertrag unterzeichnet hatten. Allein der Streit um die These von Bundespräsident Christian Wulff, der Islam gehöre inzwischen auch zu Deutschland, hat sich die Wochen seitdem in den Medien gehalten, so daß der heutige wahre Tag der deutschen Einheit ideal zur Besinnung scheint, auf die Jubelfeier in Bremen, sowie auf ganz persönliche Einheitserlebnisse.

City Cards Postkarte zu: theater 2. fall, Wir Afrikaner. Geschichten aus dem deutschen Hinterland. 24. Mai (Premiere), 25., 26.5.; 4., 5., 6., 18., 19.6.; 20:00 Uhr. ehem. O.-v.-Guericke-Buchhandlung, Breiter Weg (am HdL)

„Wir Afrikaner · Geschichten aus dem deutschen Hinterland“ von theater 2. fall über eine Gegend, wo die Bananen von allein wachsen, habe ich an meinem 32. Geburtstag 1999 mit meinem Vater in Magdeburg gesehen und wußte danach, daß mir als westDeutscher in ostDeutschland niemals eine andere Rolle als die eines Beobachters eröffnet würde. Die Idee des Stücks war großartig: eine Reisegruppe besucht eine deutsche Kolonie und zelebriert typisch deutsche Überheblichkeiten gegenüber den „Eingeborenen“, um letztlich als Götzendiener vor dem preußischen Kaiser zu enden. Seit Ende 1996 als Rechtsreferendar in der sachsen-anhaltischen Justiz und Verwaltung hatte ich zahlreiche westdeutsche Richter und Beamte erlebt, die sich in autoritäre Machtherrlichkeit gesteigert haben, wie das damals in westDeutschland jedenfalls schon bzw noch weiter zurückgedrängt war. Ich hatte aber auch genug ostDeutsche gesehen, die ausgerechnet bei diesen westReaktionären lustvoll um die Wette geschleimt und sogar noch behauptet haben, diese damit angeblich zu verarschen. Ich hatte auch ostDeutsche ostDeutsche mobben sehen und war diese ostdeutsche opferNeurose leid, denn schließlich hatten es Sachsen-Anhalter selbst mit ihren Wahlzetteln ermöglicht, daß CDU und FDP ihre westdeutschen Seilschaften in die nach der Wiedervereinigung vollständig mit westDeutschen neu besetzten Richterstellen auf Lebenszeit schachern konnten.

Mein Bild dieses ost- westKonflikts haben eher Erlebnisse geprägt wie eine Verhandlung im Landgericht Magdeburg, bei der eine Richterin jener Kammer den Vorsitz führte, der ich gerade für drei Monate zugeteilt war. Ein magdeburger Rechtsanwalt duckte sich ständig devot beim Reden, wenn er „den Kollegen aus Berlin“ ansprach, der ihm feist gegenübersaß, als müsse das auch genau so sein - zwei sehr unangenehme und immerhin nicht so ganz typische ostDeutsche unter sich. Die westdeutsche Richterin wollte beide nun zu Vergleichsverhandlungen drängen, was nicht gelang, woraufhin sie mit ihrer rechtlichen Beurteilung herausrückte und den magdeburger Rechtsanwalt zum „Ersten Sieger“ erklärte, sowie den Berliner zum „Zweiten Sieger“. Ich mußte mich zusamennreißen, um nicht zu lachen über die verdutzten Gesichter der beiden Anwälte, und ich fand das lässig, diese preußische Hierarchiegeilheit wie einen Kindergeburtstag zu behandeln und sachlich einfach zu ignorieren. Als ich die Richterin hinterher in der Bibliothek traf und darauf ansprechen wollte, hatte sie gar nichts mitbekommen von diesen Hackordnungsritualen, und später hörte ich, sie würde in der Kammer nur ungern den Vorsitz übernehmen. Da hatte sie also nur mal versehentlich und aus Unsicherheit üble preußische Traditionen aufgebrochen, um zu mehr Einzelfallgerechtigkeit zu gelangen. Schade, ich hätte sie gern dafür bewundert, denn sonst gab's leider nicht so viel während dieser Ausbildung (und den paar wenigen Ausnahmen täte ich keinen Gefallen, sie hier zu benennen).

Eine Persönlichkeit kann ich jedoch herausstellen, mit der ich keinen unmittelbaren Kontakt hatte. Meine dreimonatige Station im Referat Naturschutz des damaligen Ministeriums für Raumordnung, Landwirtschaft und Umwelt in Magdeburg war eine großartige Zeit, zumal ich mit der umweltrechtlichen Schwerpunktausbildung aus meinem Studium ohne Einarbeitung anspruchsvolle Aufgaben übernehmen konnte. Dort hingen den Pressespiegeln fast jeden Tag Pressemeldungen der Ministerin Heidrun Heidecke an, die in ihrer fachlichen Fundierung alles in den Schatten gestellt haben, was ich bisher von deutschen Umweltministern und -senatoren kannte. Ich war schwer beeindruckt von ihrer stetigen Thematisierung drängender Umweltprobleme, und ich war später sehr erfreut zu lesen, daß sie letztendlich doch noch gegen Kohls Bundesumweltministerin Angela Merkel gesiegt hat, die in den 90ern die DDR-Genehmigung des Atommüllendlagers Morsleben in bundesdeutsches Recht überführt hatte, um der Atomindustrie eine Endlagerfiktion zu verschaffen. Zweimal haben sich meine Wege mit denen von Frau Heidecke gekreuzt, einmal im Treppenhaus auf dem Weg zur Kantine und einmal beim Pförtner abends zum Abgeben von Pfandflaschen. Sie hat sich jedesmal sichtlich erschrocken, mich zu sehen, dabei war ich eigentlich ein großer Fan ihrer Arbeit und habe das auch immer so vertreten.

Was aber meinte Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Kohlfeiertag am 3. Oktober in Bremen, die Leistungen der ostDeutschen für das angebliche Zusammenfinden dieses Landes seien bis heute nicht ausreichend gewürdigt worden? Will er sich etwa bei Ingrid Köppe für die erlittene politische Verfolgung wegen ihrer herausragenden demokratischen Leistung im ersten gesamtdeutschen Bundestag entschuldigen und für das Nachtreten seines Amtsvorgängers Roman Herzog? Nein, Herr Wulff, niemals werde ich ostDeutsche als Volksgruppe betrachten und Menschen auf völkische Klischees reduzieren, auch wenn mich dort die meisten in ihr wessiKlischee zu pressen versucht haben, ohne sich überhaupt mit mir auseinanderzusetzen. Da war und bin ich vollkommen geprägt vom liberalistischen Individualismus, den auch das Menschenbild des Grundgesetzes vereinnahmt, selbst wenn insbesondere in Ihrer Partei so mancher die preußische Menschenkonditionierung bevorzugt und das Grundgesetz insoweit für eine deutsche Erniedrigung durch die westAlliierten hält. Oder anders ausgedrückt: Es gibt im Osten vermutlich ebenso viele Arschlöcher wie im Westen auch, und riskant sind nur deren Zusammenrottungen. In meinem Fall waren das leider westReaktionäre in der 1949 nur umetikettierten naziJustiz mit einem ostMob, der eben nicht für die Ideale von Bürgerrechtsbewegungen stand, sondern statt Erich Honecker für Bananenkontingente zujubeln zu sollen, das bei Helmut Kohl für D-Mark getan hat. „Ost-Mief“ hatte der DDR-Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche das mal genannt, und mit völkischen Belobigungen wird den jedenfalls kein Bundespräsident überwinden. Aber ich kann ja einfach mal so tun, als sei Wulff „mein“ Bundespräsident und meine Erfahrungen aus drei Jahren in ostDeutschland völkisch verallgemeinern:

Straßenverkehr scheint immerhin repräsentativ vergleichbar - könnte man sogar empirisch betrachten, also zählen: Die Geburtsstadt des Dichters des Deutschlandlieds heißt heute „Wolfsburg 12“. Dort bin ich aufgewachsen, habe viele Auswüchse des motorisierten Individualverkehrs miterlebt, bin dort, in Bremen und in Magdeburg lieber Fahrrad gefahren, anstatt die Erdölreserven dieses Planeten zu verfeuern, und bevorzuge in Hamburg öffentliche Verkehrsmittel. Im Bremen mußte ich oft über den Stern fahren. Das ist ein Kreisel, der für das Verkehrsaufkommen eigentlich zu klein ist, weswegen manche Bremer dort verunsichert fahren. Trotz gelegentlicher Vorfälle, einmal sogar eine Bremerin, die mich beim Bremsen noch leicht angefahren hat, habe ich mich dort auf meinem Fahrrad eigentlich sicher gefühlt und regelmäßig meine Vorfahrt gewährt bekommen. Durch den Kreisel am Hasselbachplatz in Magdeburg bin ich etwa zweimal am Tag geradelt. Der Kreisel ist groß genug für das Verkehrsaufkommen, es fährt ebenfalls eine Straßenbahn mittendurch, aber wenn mir ausnahmsweise ein Auto beim Herausfahren nicht meine Vorfahrt genommen hat, hatte das nahezu jedesmal ein westdeutsches Kennzeichen. Der ostdeutsche Umgang mit Fahrradfahrern war meistens komplett asozial, Schneiden beim Abbiegen und Überholen ohne Sicherheitsabstand erlebte ich praktisch jeden Tag. Oftmals wurde mein abgestelltes Fahrrad auch demoliert, in Bremen hingegen gleich ganz geklaut als es immerhin versichert war. Eigentlich war Fahrradfahren in Magdeburg Ende der 90er „lebensgefährlich“, und es war auch ein ostDeutscher, der das mir gegenüber ausgesprochen hatte.

Café Kröpcke & Kröpcke Uhr, December 2004

Anderes Beispiel, da Magdeburg damals noch in der Mitte der Bahnverbindung zwischen Hannover und Berlin lag, wohin ich an Wochenenden gefahren bin, wenn ich in Sachsen-Anhalt keine Theaterveranstaltung finde konnte, die mich interessiert hat. Einmal habe ich bei einem Freund übernachtet, der in Mitte gewohnt hat und wollte einen anderen Freund besuchen, der zu Gast am Prenzlauer Berg war. Auf dem Stadtplan sah der Fußweg einfach zu merken aus, aber unterwegs fiel mir auf, daß die alten sozialistischen Straßennamen inzwischen umbenannt waren. Ich wollte einfach Passanten fragen, ob ich noch richtig war, aber die sind hochnäsig an mir vorbeigegangen, als sei ich gar nicht da. Ein anderes Wochenende hatte ich in Hannover mit einem Freund aus Bremen eine Nacht durchgemacht, stand frühmorgens am Kröpcke vor einer Säule mit drei Uhren, von denen keine einzige die richtige Uhrzeit anzeigen konnte, da hat mir eine Hannoveranerin lachend im Vorbeigehen einfach die Uhrzeit zugerufen, die das Problem wohl kannte. Derartige tatsächlich erlebte Vergleiche – und ich hätte durchaus noch einige – gehen nicht gut für ostDeutsche aus, wenn man sie völkisch repräsentativ verallgemeinern will wie Bundespräsident Christian Wulff.

In Hamburg herrschte regelmäßig Ausnahmezustand, wenn Hansa Rostock gegen St.Pauli gespielt und die Rostocker randaliert haben. Die typischen CDU-Versorgungsfälle im Verwaltungsrat des NDR werden also vorab schon innere Reichsparteitage gefeiert haben, als sie die Abteilung für Widersprüche gegen Bescheide der GEZ nach Rostock verlegt haben, damit ostDeutsche für all ihre tatsächlichen und manche eingebildeten Demütigungen sich an normalen westDeutschen abreagieren können, die sich vom Hofschranzenjournalismus der GEZ-Mafia zwischen belanglosem Trallala zu recht verarscht fühlen. Aus demselben Grund dürfte das Bundesverwaltungsamt seine Inkassodienststelle von Köln nach Halle verlegt haben, und ich habe selbst mal eine extremst asoziale ostDeutsche in der Landeshauptkasse Dessau erlebt, die mir aus purer Schikane eine Kontopfändung in Hamburg reingewürgt hat, wie auch ostdeutsche Schaffnerinnen schonmal westdeutsche Jugendliche nachts an verlassenen Bahnhöfen aus Zügen schmeißen, die ein falsches Ticket gelöst hatten. Es sind genau diese organisierten Kämpfe von ostDeutschen gegen die nächstgreifbaren Wessis, die Helmut Kohls Einigungsvertrag von 1990 installiert hat, um dieses Land für seine Seilschaften dauerhaft beherrschbar zu machen, mit penetrantem Ossi-Liebhab-Zwang für die westDeutschen und einigen tatsächlichen politischen Demütigungen für ostDeutsche, die viele einfach weitertreten. Es hat mir zwar überhaupt nichts genutzt, dieser völkischen Konditionierung widerstanden zu haben, aber ich bin immerhin zufrieden, mich nicht verbogen, sowie diese Mechanismen früh verstanden zu haben und sie sogar produktiv angegangen zu sein, so daß ich heute auf eine ganz klare Linie zurückblicke für die – übrigens Grundgesetz-konforme – Freiheit zur individuellen Entfaltung und gegen die neopreußische Menschenkonditionierung, obwohl ich damals noch gar nicht so sicher wußte, daß diese eine Fortsetzung von Joseph Goebbels Bildungsideal der preußischen Baumschule ist, die für mich trotzdem nie eine Versuchung war.

Tatsächlich haben sich längst die westDeutschen den ostDeutschen angepaßt und nicht umgekehrt. Inzwischen sagen auch auch westDeutsche zur Wiedervereinigung „Wende“, obwohl das in der alten Bundesrepublik historisch das politische Manöver war, mit dem Hans-Dietrich Genscher 1982 Helmut Schmidt gestürzt und Helmut Kohl zum Bundeskanzler gemacht hatte. Das 12-jährige turboAbitur ist inzwischen auch in westDeutschland etabliert insbesondere wegen seiner Bevorzugung des opportunistischen Auswendiglernens gegenüber dem Begreifen von Zusammenhängen. Eine ostdeutsche Sekretärin in einer Behörde, in der sie das eigentlich hätte besser wissen müssen, hat sich mal in meiner Gegenwart aufgeregt, daß ihre Kinder am Gymnasium so viele Aufsätze schreiben müßten: „Die sollen Diktate schreiben, da lernt man wenigstens was“. Ich hätte erwidern können, daß ich unter ostdeutschen Rechtsreferendaren der einzige war, für den frei gehaltene Referate selbstverständlich waren, nur dann wäre ich wieder der besserWessi gewesen. Ich rede doch allenfalls, um Ideen zu kommunizieren und andere davon zu überzeugen und nicht um des Redens willen. Inzwischen aber ist der SED-Stil, dieses Viel-reden-und-nichts-sagen, für den im Westen nur der Hallenser Genscher berüchtigt war, längst gesamtdeutsch etabliert. „Präsidialer Regierungsstil“ nennen das inzwischen sogar westdeutsche Medien, dieses unbeteiligte Geschwätz in Textbausteinen, als stünde jemand über den Dingen – Heinrich Heine nannte das den „eingefrorenen Dünkel“. Dabei galt im Westen mal Albert Einstein als intellektuelles Ideal, der auftauchen konnte wie frisch aus dem Bett gestiegen und trotzdem auf komplexe Fragen mit geistreichen Antworten straight to the point beeindrucken konnte.

Dieses Jahr habe ich mich an ein Wort erinnert, das ich während meiner drei Jahre in Sachsen-Anhalt ständig zu hören bekommen habe: „Steherqualitäten“. Es ging dabei immer darum, sich durchzusetzen, egal für was und egal wie bekloppt. Die Städtischen Werke Magdeburg hatte ich diesbezüglich mal am Hacken, die es drei Jahresabrechnungen hintereinander nicht geschafft haben, Guthaben und Nachzahlungen mit meinem Bankkonto zu verrechnen, von dem sie jeden Monat ihre Abschläge abgebucht haben. Irgendwie schienen die meine freundlichen Hinweise auf meine ihnen bekannte Bankverbindung als Ausdruck von Schwäche und Einladung zur Erniedrigung zum Schuldner, der eine Zählersperrung braucht, mißverstanden zu haben, der sie gern lustvoll nachkommen wollten - nein, daran hatte ich kein Interesse, ich war einfach nur freundlich. Aber das war sowieso noch gar nichts gegen das Zusammenwirken diveser Steherqualitäten, die später die gesamte Wohnungsbaugenossenschaft durchgebracht haben, so daß auch noch meine Einlage verloren war. Erstaunlich im Nachhinein, daß ich alle „Herrentage“ problemlos überstanden, haben, wenn aus dem Herrenkrugpark Massenschlägereien vermeldet wurden. An diese speziellen ostdeutschen Steherqualitäten habe ich mich erinnert, als der Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland für die Toten und Verletzten der LoveParade genauso wenig Verantwortung übernehmen wollte wie Dieter Althaus für seine fahrlässige Tötung einer Skifahrerin in Österreich. Jetzt ist dieser ostdeutsche Habitus schon in Nordrhein-Westalen etabliert, habe ich damals gedacht, und bei dieser Gelegenheit möchte ich gleich nochmal Eva Herman widersprechen, für die die LoveParade ein Exzess der 68er war, der in Duisburg sein verdientes Ende gefunden hätte. Nein, Frau Herman, die LoveParade ist in Berlin unter dem CDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen als Kohl-Jugend gefördert worden, die endlich für Konsum und Verblödung demonstrieren sollte, anstatt für Argumente der 68er. Erst als die Bäume im Tiergarten im Drogen-Urin der Raver zu verrecken drohten, hat das Bundesverfassungsgericht den Status der politischen Demonstration aberkannt. Die Wagen der LoveParade waren also dieselben, auf die Sie aufgesprungen sind, als Sie zur sogenannten Werte-Debatte um preußische Tugenden, wie Pünktlichkeit, Zucht und Unterordnung, sowie Nationalstolz auch die Familie als Wert gefördert sehen wollten und sich bei den Mutterkreuzen der Nazis verheddert haben, woraufhin sich ausgerechnet Johannes B Kerner auf Ihre Kosten als Antifaschist inszeniert hat, den Joseph Goebbels auch niemals ausgesondert hätte. Nein, die geistfeindlich-reaktionären 90er waren ein komplett vergeudetes Jahrzehnt, weil das fragile Kräfteverhältnis zwischen Ewiggestrigen und fortschrittlichen Liberalisten (jenseits der FDP!) in westDeutschland zugunsten der Reaktionäre verschoben wurde von einer Mehrheit der 16 Millionen ostDeutschen, die schon nicht beim Prager Frühling mitgemacht hatten und sich mehrheitlich erst gegen die SED aufgelehnt haben, als viel mutigere Polen ihr Regime bereits überwunden hatten und zwischenzeitlich der Kreml schon gar keine Moskau-Getreuen mehr haben wollte, so daß sowieso nur noch Montagsdemonstrationen für Steherqualitäten geblieben waren.

Allerdings gibt es auch Themen, wo ich das kaum noch schaffe, mich nicht über ostDeutsche pauschal aufzuregen, insbesondere wenn es um Errungenschaften geht, die tatsächlich allgemeinen Respekt verdienen. Anfang der 80er Jahre gab es den politischen Zweikampf Peter Gauweiler gegen Rita Süßmuth zur AIDS-Hysterie. Gauweiler versuchte aus dem Thema politisches Kapital zu schlagen und homophobe Ressentiments zu schüren mit Forderungen, Infizierte zum Schutz der Gesellschaft zu internieren, während Rita Süßmuth sich konsequent für Prävention eingesetzt und für Problembewußtsein geworben hat. Das war eine unglaubliche Leistung für eine CDU-Politikerin, Bundesmittel ausgeben zu dürfen, um für Sex mit Kondomen zu werben zu einer Zeit als Machos aus den 70ern dagegen noch gepöbelt haben, sie würden sich doch auch nicht im Taucheranzug in die Sonne legen. Rita Süßmuth hat diesen Kampf damals gewonnen und zumindest in meiner Generation ein Bewußtsein gefestigt, sich vor Infektionen so konsequent wie irgendmöglich zu schützen. Ende 1999 sind mir in ostBerlin das erste Mal in meinem Leben junge Schwule begegnet, die das anders gehandhabt haben. Das hat mich damals nachhaltig verstört, und ich weiß heute, daß es massiv ostDeutsche durch alle Bildungsschichten sind, die Sätze sagen wie: Wenn ich ein Gummi raushole, denkt doch jeder gleich, ich hätte AIDS. Ganz offensichtlich sind die 80er Jahre vorbei, in denen sich richtige Argumente auch politisch durchsetzen und allgemein überzeugen konnten.

„Unsere“ christlich-jüdische Geschichte oder kulturelle Prägung ist seit Wulffs Rede zum 20. Kohlfeiertag auch noch so'n Eckpfeiler des politischen „Diskurses“ geworden. Was die jüdischen Traditionen der Bundesrepublik sein sollen, wüßte ich gern mal, zum Beispiel bezüglich der Kulturgüter, die bei der Entjudung im Reich ihre Besitzer gewechselt haben. Ist auch die Rendite aus Zwangsarbeit gemeint? Als einzige verläßliche jüdische Tradition der Bundesrepublik fallen mir Sachen ein wie Günther Oettinger, der sich von Charlotte Knobloch medienwirksam seine Absolution holen konnte, als er den naziRichter Hans Filbinger in einen „Gegner des NS-Regimes“ umzulügen versucht hatte. Das jüdische Theaterstück „Vom Ende der Welt“ hatte ich 1996 im Satyricon in der Hankenstraße in Bremen gesehen und war fasziniert von den feinsinnigen Anregungen. Dort hatte ich mich mal in einer Pause am Tresen mit einem Darsteller unterhalten, die ihre Spielstätte bald schließen mußten, zumal ihnen auch der Weser-Kurier erklärt hatte, sie kämen erst wenn's läuft. Auch als ich in Hamburg Sylvin Rubinstein kennenlernen durfte, hatte ich nicht den Eindruck, dessen selbstloser Widerstand gegen den Nationalsozialismus würde tatsächlich von so viel mehr Menschen geschätzt als von einigen, die selbst davon profitiert hatten. Vielleicht sollte Wulff zur jüdischen Geschichte in Deutschland lieber tatsächliche Experten referieren lassen, aber das hatte vor 22 Jahren schon nicht geklappt als Bundestagspräsident Philipp Jenninger den damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Heinz Galinski nicht hat zu Wort kommen lassen.

Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, hatte Wulff zum Kohlfeiertag noch gesagt. Hat er das eigentlich vorher gewußt, daß er dafür Applaus bekommt, während sich auf seine Rede tatsächlich ein Mob aufschwingt, für den zwischenzeitlich sogar eine Deutschenfeindlichkeit der Muslime das ganze Problem sein soll? Mir ist eigentlich egal, wo jemand seinen spirituellen Halt findet, selbst wenn es Scientology sein sollte, denn die eigentliche demokratische Errungenschaft westlicher Staaten ist nicht irgendeine religiöse Prägung, sondern die sich sogar in Polen durchsetzende Trennung von Staat und Religion. Die Türkei ist hingegen der einzige überwiegend muslimisch geprägte Staat, der diese Trennung umgesetzt hat, und zwar so konsequent, daß es Massendemonstrationen in Istanbul gibt, wenn Ministerpräsident Erdoğan auch nur minimal daran rüttelt. Demgegenüber hatte sogar Angela Merkel einen Gottesbezug in der dann sowieso gescheiterten EU-Verfassung gefordert, womit sich Richter und Beamte nicht mehr frei entscheiden könnten, ob sie eigenverantwortlich oder von ihrem Gott gelenkt ihren Amtseid schwören. Christian Wulff steht christlichen Fundamentalisten nahe so ähnlich wie George W. Bush, so daß sein Plädoyer für ein respektvolles Nebeneinander verschiedener Kulturen ungefähr so glaubwürdig ist wie Papst Benedikts respektvolles Interesse an der Ökumene. Da halte ich's lieber mit Paul Spiegel, der einfach nur wollte, daß es keinen Unterschied macht, ob jemand Jude ist oder nicht. Deshalb bin ich auch unbedingt der Meinung jener von Wulff zur niedersächsischen Sozialministerin gekürten Muslimin Aygül Özkan, daß wie alle anderen religösen Symbole auch Kruzifixe nichts in staatlichen Schulräumen zu suchen haben, weil diese die Freiheit des einzelnen einschränken, selbst zu entscheiden, wo er sich spirituell anregen läßt. Ich verstehe auch die Aufregung der katholischen Kirche deswegen nicht, an deren spiritueller Fundierung in den letzten Jahrtausenden Millionen Menschen gearbeitet haben, womit sie ohne jeden Zwang anregen und überzeugen können sollte. Aber als Ministerpräsident in Niedersachsen hatte Wulff seine Ministerin dafür abgewatscht, die sich dann für richtige Argumente auch noch entschuldigt hat. Nunja, ihr Vater ist Schneider in Altona, sie hat im sogenannten rechtswissenschaftliches Studium dem Druck zum opportunistischen Auswendiglernen wohl nichts bis wenig entgegengesetzt, ist bei den reaktionären Seilschaften in Justiz und Verwaltung offensichtlich nicht angeeckt, hat ihre Fertigkeiten danach zum Lohndrücken bei TNT eingesetzt und sich somit in der CDU qualifiziert zur ersten muslimischen alibiMinisterin in Deutschland. Da ostDeutsche seit 1990 politisch genau demselben Anpassungsdruck ausgesetzt sind und insbesondere die CDU einen Anpassungswettstreit entfacht hat, scheint sich zu erklären, warum es im Osten erheblich mehr Spannungen mit Migranten gab und vermutlich noch gibt, aber auch in einer der ausländerreichsten deutschen Stadt, in Hamburg sind unter Bürgermeister Ole von Beust herkunftsbedingte Spannungen massiv gewachsen und eskalieren zunehmend sehr gewalttätig.

Am heutigen wahren Tag der deutschen Einheit zurückgeblickt auf den 20. Kohlfeiertag erfreuen mich daher insbesondere die Proteste in Gorleben und Stuttgart, weil endlich aufgebrochen wird, daß sich 1990 westReaktionäre und ostMob unter Ausgrenzung west- und ostdeutscher Bürgerrechtler zusammengerottet haben. Genau diese Seilschaften feiern sich jeden 3. Oktober selbst, aber heute, zum 21. Jahrestags des Mauerfalls haben Menschen in Gorleben deren neopreußische Gleichschaltung dieser Republik seit 1990 wieder ein kleines Stück zurückgedrängt und Angela Merkel als den Prototypen jener ostDeutschen isoliert, die ab 1990 dem damals abgewirtschafteten Kohl-Regime einen zweiten Frühling verschafft haben, wobei sie sich als Physikerin, die das besser wissen sollte, für ihren persönlichen Aufstieg nicht einmal zu schade war, sich hemmungslos der Atomindustrie anzubiedern. Es ist daher eine besondere historische Ironie, daß den Demonstranten gelungen ist, den Castortransport bis zum Jahrestag des Mauerfalls zu verzögern. Von Merkel und ihren Seilschaften möchte ich jetzt nur noch Worte hören wie von Horst Köhler oder Günter Schabowski: „Mit sofortiger Wirkung“…





©   Dirk Burchard   InternetWerkArchiv   InternetPhotoGalerie   dburchard@web.de

UP